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Es sind die Jahre, in denen die Glühbirne erfunden wird und das Telefon. Die Kolonien der Weissen breiten sich gierig aus. Darwins Lehre wird diskutiert. Wagner konzipiert sein „Gesamtkunstwerk”, und während Böcklin seine mythologischen Szenen malt, nennt Monet eines seiner Bilder einfach „Impression”. Rilke kommt 1875 zur Welt – auch er verschreibt sich, als Dichter, dem seelischen Weltinnenraum. Als Carl Gustav Jung am 26. Juli in Kesswil, im Kanton Thurgau, als Sohn des evangelisch-reformierten Pfarrers Johann Paul Achilles Jung (1842-1896) und seiner Ehefrau Emilie Preiswerk (1848-1923) geboren wird, ist Sigmund Freud neunzehn Jahre alt; Marx hat „Das Kapital” bereits zu veröffentlichen begonnen. Einstein wird vier Jahre, Hitler vierzehn Jahre nach ihm zur Welt kommen. Das Werk und die Gestalt Carl Gustav Jungs ragen so unmittelbar in die Aktualität der Gegenwart, dass es die kleine Mühe lohnt, sich zu vergegenwärtigen, dass er in einer Zeit zur Welt kam, als so manches von dem, was unserer westlichen Zivilisation inzwischen selbstverständlich geworden ist, eben erst in den Alltag einzufließen begann. Und der junge Carl wächst auf dem Lande auf, wo die Zeit noch etwas zaÅNhflüssiger zu sein scheint: Es ist dieses schweizerisch protestantische Landleben in einem Pfarrhaus, das seine frühen Jahre nachhaltig prägt. Die Familie Jung stammt ursprünglich aus Mainz. Carl Gustav Jung, der 1864 verstorbene Großvater, ist als Achtundzwanzigjähriger in die Schweiz gezogen und auf Empfehlung von Alexander von Humboldt 1822 an die Universität Basel berufen worden. In der Familie wird die Legende tradiert, dieser berühmte, gleichnamige Grossvater, dem sich Jung sehr nahe fühlte, sei ein natürlicher Sohn Goethes gewesen. Jungs Mutter stammte aus Basel. Durch ihre Familie ist Jung über fünf Jahrhunderte zurück im schweizerischen Volkstum verwurzelt. Ihr Vater, Samuel Preiswerk, war ein bedeutender Theologe und Hebraist, der auch mit Geistern Umgang pflegte. Seine zweite Frau, Jungs Großmutter, hatte, nachdem sie als Achtzehnjährige 36 Stunden lang scheintot gewesen war, das „zweite Gesicht”. Mediale Begabung, ebenso wie Theologie, Medizin und Naturwissenschaften, also jene Bereiche, die sich in Jungs späterer Ausrichtung auf die Psychiatrie kreuzen, haben in der Familie Tradition.
Ein halbes Jahr nach seiner Geburt zieht die Familie vom Bodensee in die Nähe des Rheinfalls, nach Laufen. Jungs früheste Erinnerungen sind hier angesiedelt. Neun Jahre lang, bis zur Geburt seiner Schwester, wächst Carl als Einzelkind auf.
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Früh schon sind die Beziehungen zwischen den Eltern gespannt, sie schlafen in getrennten Zimmern, der Junge schläft beim Vater. Die Mutter bleibt mehrere Monate im Krankenhaus. „Die lange Abwesenheit meiner Mutter hat mir schwer zu schaffen gemacht. Seit jener Zeit war ich immer misstrauisch, sobald das Wort „Liebe” fiel. Das Gefühl, das sich mir mit dem „Weiblichen” verband, war lange Zeit: natürliche Unzuverlässigkeit. „Vater” bedeutete für mich Zuverlässigkeit und – Ohnmacht.” Der Junge leidet an psychosomatischen Erkrankungen, und nachts befallen ihn Ängste. Seine Mutter lehrt ihn ein Nachtgebet, das er jeden Abend beten „muss”. In seinen Erinnerungen schildert Jung, wie ihm als Kind der Jesus, den ihm dieses Gebet sowie andere aufgeschnappte Ereignisse, Aussagen und Lehrsätze vermitteln, zu etwas Ungeheurem anwächst – „eine Art Totengott”. Während er dem Vater und Pastor gegenüber skeptisch bleibt, schildert er seine Mutter mit mehr Wärme: „Meine Mutter war mir eine sehr gute Mutter. Sie hatte eine große animalische Wärme…, eine ausgesprochene literarische Begabung, Geschmack und Tiefe. Aber das kam eigentlich nirgends recht zum Ausdruck; es blieb verborgen hinter einer wirklich lieben dicken, alten Frau… Sie hatte alle hergebrachten traditionellen Meinungen, die man haben kann, aber handkehrum trat bei ihr eine unbewusste Persönlichkeit in Erscheinung, die ungeahnt mächtig war – eine dunkle große Gestalt, die unantastbare Autorität besaß – darüber gab’s keinen Zweifel.”
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zieht die Familie Jung nach Kleinhüningen bei Basel (heute ein Vorort) um. Carl spielt meistens allein. Die Dorfschule bringt ihm die längst entbehrten Spielgefährten. Jungs Schilderung seiner eigenen Kindheit, wie er sie in hohem Alter in „Erinnerungen, Träume, Gedanken” niedergelegt hat, liest sich wie ein religiös zu nennendes Ringen. Carl ist geprägt vom elterlichen Pfarrhaus und dem Versuch seiner Eltern, ein frommes Leben zu führen. Die Formen und Riten, die ihm präsentiert werden, kommen ihm jedoch, verglichen mit dem eigenen inneren Erleben, schal und hohl vor. Das Kind wird von Träumen und Visionen heimgesucht. Diese vermitteln ihm ein anderes, vielschichtigeres Gottesbild und eine Glaubensgewissheit, die den ganzen theologischen Aufwand an Überzeugungstaktiken für einen „blinden” Glauben weder nötig hat noch akzeptieren kann. Wenn Jung später in seinen Schriften stets von neuem Aussagen über den psychologischen Aspekt der Gottesidee machen wird, die immer wieder auf Kritik, nicht nur von theologischer Seite, stoßen werden, so geschieht dies zweifelsohne auf diesem Hintergrund. Wiederholt wird er betonen, dass er nur als Seelenarzt und Wissenschaftler spricht; doch lässt er immer einen Raum spürbar offen, in welchem seine frühe Erfahrung gilt: und darüber soll man schweigen.
Im Alter von drei oder vier Jahren erlebt er seinen ersten Traum, seine „Uroffenbarung”, den er aber erst als Dreiundachtzigjähriger, erzählen wird. Dieser Traum begleitet kontrastiv als dunkler Widerpart die Lichtgestalt Christi. „Der Phallus dieses Traumes scheint auf alle Fälle ein unterirdischer und nicht zu erwähnender Gott zu sein. Als solcher ist er mir durch meine ganze Jugend geblieben und hat jeweils angeklungen, wenn vom Herrn Jesus Christus etwas zu emphatisch die Rede war.” Damals, so stellt er fest, habe sein geistiges Leben seinen unbewussten Anfang genommen. Gerhard Wehr macht auf die auffallende zeitliche Nähe zu Friedrich Nietzsche aufmerksam: Dieser, ebenfalls ein Pfarrerssohn, schreibt 1881 in „Sils Maria” seine epochenprägende Proklamation „Gott ist tot” nieder. Im geistesgeschichtlichen Kontext sieht Wehr sie beide „neue Horizonte inmitten der Gottesfinsternis” erspähen. Für Jung selber war Nietzsches „Zarathustra” nach Goethes „Faust” die zweite Begegnung mit einer verwandten Seele. Seine inneren Erlebnisse behält der Junge für sich. „Dieser Besitz an Geheimnis hat mich damals stark geprägt. Ich sehe es als das Wesentliche meiner frühen Jugendjahre an, als etwas, das für mich höchst bedeutend war.“
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In Basel, wo Carl das Gymnasium besucht, wird er sich der ärmlichen Verhältnisse bewusst, in denen er aufgewachsen war. Eine neue Welt eröffnet sich ihm durch die städtisch vornehme Umgebung und in einer Reihe von tiefgreifenden Erlebnissen, welche sein elftes und zwölftes Lebensjahr prägen. Auf dem Münsterplatz erhält er von einem anderen Jungen einen Stoss, fällt hin und schlägt sich den Kopf an. Im Moment des Aufschlagens durchfährt es ihn: „Jetzt musst du nicht mehr in die Schule gehen!” Und tatsächlich, kurz bevor er wieder in die Schule soll, stellen sich Ohnmachtsanfälle ein. Er treibt es so weit, dass die Ärzte, ratlos, auf Epilepsie tippen. Erst als sein Vater seiner Verzweiflung Ausdruck gibt, der Sohn könne womöglich unheilbar krank und unfähig sein, sich sein Leben zu verdienen, begreift der Stubenhocker: „Aha, da muss man arbeiten” – und von diesem Moment an wird er ein ernsthaftes Kind. Ebenfalls mit dem Münsterplatz ist ein weiteres Schlüsselerlebnis verbunden. Es ist ihm, als sehe er über dem prachtvollen Münster Gott den Schöpfer, der… weiter ist er nicht in der Lage zu denken. Aber es – wer? – bedrängt ihn, lässt ihn nicht schlafen, bis er den Gedanken nicht mehr unterdrücken kann: „Vor meinen Augen stand das schöne Münster, darüber der blaue Himmel, Gott sitzt auf goldenem Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ein ungeheures Exkrement auf das neue bunte Kirchendach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander. – Das war es also.” Statt Verdammnis spürt er Gnade über sich kommen; er hat den Willen Gottes erfüllt, indem er das Bild zuließ. In dieser Zeit erwacht in ihm das Bewusstsein: „Jetzt bin ich.” Er spürt „Autorität” in sich. Diese „Autorität” nimmt in einer Reihe von Erlebnissen seltsame Gestalt an: Sie scheint sich als dem 18. Jahrhundert zugehörig auszuweisen. Unter dem Eindruck dieser Erlebnisse entwickelt sich bei Jung die noch unartikulierte Vorstellung, er bestehe aus zwei Persönlichkeiten – einem Schuljungen und einem „inneren”, alten, weisen Menschen – die er Nr. 1 und Nr. 2 nannte. „Spiel und Gegenspiel zwischen den Persönlichkeiten Nr. 1 und Nr. 2, die sich durch mein ganzes Leben zogen, haben nichts mit einer „Spaltung” im üblichen medizinischen Sinne zu tun. Im Gegenteil, sie werden bei jedem Menschen gespielt”, schreibt Jung rückblickend. Nr. 2 ist für C. G. Jung zeitlebens die maßgebende Stimme geblieben. „Jungs Hauptbetonung des Selbst, im Gegensatz zum Ich, wurde als die kopernikanische Revolution in der Psychologie bezeichnet. Während alle anderen entwicklungspsychologischen Theorien ein starkes und kompetentes Ich als den Höhepunkt der psychischen Leistung betrachten, behauptete Jung, dass das Ziel jedes Persönlichkeitswachstums eine vollständige Verwirklichung des Selbst sei” (Stevens). Von der Konfirmation, die er gespannt erwartet hatte, ist er tief enttäuscht. Die steife und leere Zeremonie entsprach in keiner Weise den Hoffnungen des innerlich vom Numinosen bewegten Jugendlichen. Bis zu dieser Zeit gab er sich Mühe, sich zum Glauben ohne Verstehen zu zwingen, so wie es der Vater forderte. Für ihn konnte er nur noch heftigstes Mitleid empfinden – „auf einmal verstand ich die Tragik seines Berufs und seines Lebens”. Der Glaubenszusammenhang mit der Umwelt war endgültig zerbrochen. „Ich war aus der Kirche herausgefallen. Das erfüllte mich mit Trauer, die die Jahre bis zum Beginn meines Studiums überschatten sollte.”
Bis in sein hohes Alter wird sich Jung, der keiner anerkannten Konfession beigetreten ist, immer wieder auf seine persönliche Erfahrung berufen: „Auch heute bin ich einsam”, bekennt er wenige Jahre vor seinem Tod, „weil ich Dinge weiß und andeuten muss, die die anderen nicht wissen und meistens auch gar nicht wissen wollen.”
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Jung beginnt, bestimmte Fragestellungen systematisch zu verfolgen. Heisshungrig stürzt er sich in die Lektüre der Philosophiegeschichte. Schopenhauer ist der erste Fund, Kants Erkenntnistheorie eine Erleuchtung. Von dieser Zeit an bessert sich seine depressive Gemütsverfassung. Nr. 1 tritt allmählich gestärkt hervor, die schwankende Gesundheit festigt sich, er wird mitteilsamer und entwickelt einen „gewaltigen Appetit in jeder Hinsicht”.
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Als es Zeit wird, sich über die Berufswahl Gedanken zu machen, ziehen die „beiden Seelen in der Brust Jungs” sowohl in natur- als auch in geisteswissenschaftlicher Richtung. Von 1895 an studiert Jung an der Universität Basel – erst Naturwissenschaften, dann entscheidet er sich für einen Kompromiss: Medizin. Der athletisch aussehende junge Mann schliesst sich der Studentenverbindung „Zofingia” an und ist, so wird berichtet, stets zu Spässen aufgelegt. In der Verbindung wird er „die Walze” genannt – ein signifikanter Unterschied zum Übernamen, den ihm seine Nr. 2 während der Schulzeit, als er „Erzvater Abraham” gerufen wurde, beschert hatte.
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Mit dem Tod des Vaters entstehen schwerwiegende finanzielle Probleme. Der Student übernimmt eine Unterassistentenstelle und den Vertrieb einer kleinen Antiquitätensammlung einer Tante. Die Armut hat ihn eingeholt. Bei einem Besuch bei Frau Rauschenbach, einer reichen Bekannten der Familie, die er aus seinen Kindertagen kennt, sieht er, als er ins Haus tritt, auf der Treppe ein Mädchen stehen. Es ist ihre vierzehnjährige Tochter. „Da wusste ich: Das ist meine Frau! Ich war tief erschüttert davon; denn ich hatte sie ja nur einen kurzen Augenblick gesehen…” Sieben Jahre später heiraten die beiden. Am Ende des ersten Studienjahrs stößt Jung auf spiritistische Literatur. Es sind für den Medizinstudenten „die ersten Berichte über objektive psychische Phänomene”. Spiritistische Sitzungen, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts durchaus Mode waren, finden auch mit der medial begabten Kusine Helene Preiswerk statt. Jung, zugleich fasziniert und wissenschaftlich distanziert, beteiligt sich über zwei Jahre lang an den Seancen. Die Ausbeute bildet die Grundlage für seine Dissertation Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene, die er 1902 an der Universität Zürich einreicht. Dennoch zieht es ihn zunächst gar nicht zur Psychiatrie. Erst als er bei Richard von Krafft-Ebing liest, Psychosen seien als „Krankheiten der Person” zu betrachten, fährt es wie ein Blitz in ihn: Psychiatrie. „Hier war der Ort, wo der Zusammenstoss von Natur und Geist zum Ereignis wurde.” Seine Freunde sind befremdet; Psychiatrie scheint ein Abstellgleis, keine Karrierebahn zu sein. Ende des Jahres 1900 besteht Jung das Staatsexamen als Bester. Zur Feier leistet er sich erstmals in seinem Leben einen Besuch in der Oper. Mit den Melodien von „Carmen” noch im Ohr begibt er sich anderntags auf eine Reise nach München und Stuttgart.
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Die Jahrhundertwende markiert in der Psychiatrie einen Wendepunkt. Sigmund Freud veröffentlicht Die Traumdeutung. Am 10. Dezember tritt C. G. Jung seine Assistentenstelle in der psychiatrischen Klinik Burghölzli bei Professor Eugen Bleuler, einem der bedeutendsten Psychiater seiner Zeit, an. Anfangs liegt Jung ein therapeutisches Interesse fern, es sind die pathologischen Varianten der sogenannten Normalität, die ihn faszinieren. Die Frage, die Jung zuvorderst beschäftigt und uns heutzutage selbstverständlich vorkommt, nämlich „Was geht in den Geisteskranken vor?”, kümmerte damals kaum jemanden. Man stempelte den Kranken mit einer Diagnose die oft genug, wie er bald feststellen sollte, weit an der Sache vorbeigriff ab, und damit war der Fall meistens erledigt. In dieser Situation wurde Freud für Jung durch seine Arbeiten zur Hysterie und zum Traum, die die psychologische Frage in die Psychiatrie einbrachten, wegweisend. Bis zum Jahre 1905 arbeitet Jung als Volontärarzt am Burghölzli. Seine eigentliche wissenschaftliche Arbeit beginnt mit diagnostischen Assoziationsstudien; die Experimente bringen Ergebnisse, die die Zürcher Schule nachhaltig prägen sollten. Jung entwickelt seine Theorie der „gefühlsbetonten Komplexe” (später einfach Komplexe genannt) und weist nach, dass sie sich vom Bewusstsein unabhängig verhalten.
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Eheschliessung mit Emma Rauschenbach; der Ehe entstammen fünf Kinder: Agathe (Niehus) 1904, Gret (Baumann) 1906, Franz (Jung-Merker) 1908, Marianne (Niehus) 1910, Helene (Hoerni) 1914. Emma, die als still, klug und spontan fröhlich geschildert wird, stammt aus einer gutsituierten Schaffhauser Industriellenfamilie. Ihre innere Ruhe soll das oftmals vulkanische Temperament Jungs wohltuend kompensiert haben. Die jungen Eheleute fangen bald an, sich ein eigenes Haus am Zürichsee in Küsnacht zu bauen, in das sie 1908 einziehen. An der Klinik avanciert Jung 1905 zum Oberarzt, er bleibt vier Jahre in dieser Funktion –, und nach seiner Habilitation in Psychiatrie wird er (bis 1914) Privatdozent an der Universität Zürich.
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Über die Psychologie der „Dementia praecox” erscheint und begründet Jungs Ruf in der Fachwelt. Ohne dass sich Jung allen Ansätzen Freuds anschließt, untermauert diese Schrift die Freudsche Theorie. Im Vorjahr hatte er Freud seine Arbeit über Diagnostische Assoziationsstudien zugeschickt und damit einen bis zum Jahr 1913 fortgesetzten Briefwechsel eröffnet. Freud lädt Jung daraufhin zu sich nach Wien ein. Hier ereignet sich jene legendäre erste Begegnung, bei der die beiden Psychoanalytiker in einem fast pausenlosen, dreizehn Stunden währenden Gespräch einander nahe kommen. Einige Jahre werden sie engstens zusammenarbeiten. Für den Älteren bedeutet dies zu einem Zeitpunkt, als er wegen seiner Ansichten über die infantile Sexualität weithin geachtet ist, Unterstützung von einem erfolgreichen Psychiater, der darüber hinaus weder Österreicher noch Jude ist, „was bedeutete, dass er die Psychoanalyse davor retten konnte, wie der kabbalistische Kult einer Wiener Clique zu erscheinen” (Stevens). Und für den Jüngeren war: „Freud der erste wirklich bedeutende Mann, dem ich begegnete”. Freud wird für Jung zu einer Vaterfigur. Er bittet in einem Brief (vom 20.2.1908) geradezu, „..mich Ihre Freundschaft nicht als Gleichberechtigter, sondern als die von Vater und Sohn genießen zu lassen”.
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Jung wird am Burghölzli nahegelegt, die Klinik zu verlassen. Man wirft ihm vor, seine Pflichten am Spital zugunsten seiner privaten Forschungen zu vernachlässigen. Ausserdem wird die Ambivalenz der Beziehung zu Freud immer deutlicher. Jung erkennt, dass er mit ihm nicht mehr als ein Stück des Weges gemeinsam gehen kann: Es ist nicht seine Art, jemandes Anhänger oder Wortführer zu sein, wie es der Ältere im Grunde von ihm erwartet. Die beiden Vorkämpfer sind mittlerweile vielleicht auch nicht mehr so sehr aufeinander angewiesen. Der Expedition in die Seelenwelt schließen sich immer mehr Menschen an, was seine Bestätigung am „Ersten Internationalen Psychoanalytischen Kongress” erhält. Eingeweihte aus Österreich, der Schweiz, Deutschland, England, den USA und Ungarn finden sich im April in Salzburg ein. Im März 1909 sind Emma und Carl Jung zum zweitenmal bei Freud in Wien zu Besuch. Die beiden Analytiker trennen sich mit sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Während Freud ihn als Sohn „adoptiert” und zum „Kronprinzen” gesalbt zu haben meint, fühlt sich Jung „innerlich glücklichst befreit von drückenden Gefühl der Vaterautorität”. Im neu erbauten Haus in Küsnacht bei Zürich eröffnet Jung seine Privatpraxis. Unter anderen nimmt er auch seine Frau Emma in Analyse. Neben ihren Verpflichtungen in Haus und Familie ist sie auch eine Mitarbeiterin ihres Mannes und wächst immer tiefer in die praktische Arbeit der Psychotherapie hinein, so dass sie mit der Zeit auch Seminare hält und in der Ausbildung von Psychotherapeuten tätig ist. Zu Gastvorlesungen an die Clark University in Worcester/Massachusetts eingeladen, fährt Jung zusammen mit Freud (und Ferenczi) im Herbst in die USA; beiden wird der Ehrendoktortitel verliehen.
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Im März reist Jung nochmals für kurze Zeit in die USA, wo die Psychoanalyse sehr bereitwillig aufgenommen wird. Anschliessend findet in Nürnberg der 2. Kongress der Psychoanalyse statt, an dem die „lnternationale Psychoanalytische Vereinigung”, mit Sitz in Zürich und Jung als Präsident (bis 1914), gegründet wird. Die Mythenerforschung beschäftigt Jung mit zunehmender Intensität. Während der Vorarbeiten zu seinem Buch „Wandlungen und Symbole der Libido” kommt ihm plötzlich eine Erinnerung aus seiner Kindheit, die er über dreißig Jahre lang vergessen hatte, wieder in den Sinn. Er hatte als Kind zur Bannung seiner Ängste eine Figur hergestellt, die sich nun als ein „Kabir”, entpuppte. „Mit dieser Wiedererinnerung kam mir zum erstenmal die Überzeugung, dass es archaische seelische Bestandteile gibt, die aus keiner Tradition in die Individualseele eingedrungen sein können. Es gab nämlich in der Bibliothek meines Vaters nicht ein einziges Buch, das dergleichen Informationen enthalten hätte.” Diese Überzeugung wird ihn zur Erforschung des kollektiven Unbewussten führen.
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Das Dilemma mit seiner „Vaterfigur” wird immer virulenter. Soll er Freud persönlich nahe bleiben, muss er dessen Linie vertreten, andernfalls steht die Freundschaft auf dem Spiel. Dass Freud jede Geistigkeit auf „verdrängte Sexualität” reduzieren und seine Sexualtheorie zum Dogma erheben will, ist einer der Punkte, an denen sich die Geister scheiden. Jung fühlt sich keinem Dogma verpflichtet. Auch in der Ehe mit Emma Jung verstärken sich die Spannungen. Das Liebesverhältnis zu Sabina Spielrein ist ihr nicht verborgen geblieben. Als dann eine weitere Freundin ihres Mannes, Toni Wolff, in der Öffentlichkeit auftritt, wendet sich Emma in Briefen hilfesuchend an Freud. Sabina Spielrein, 1885 als Jüdin in Russland zur Welt gekommen, war 1904 nach jahrelangem psychischem Leiden in die Klinik Burghölzli gekommen. Im folgenden Jahr befand sie sich in psychoanalytischer Behandlung bei Jung. 1909 brach dieser die Analyse ab (Freud war inzwischen von dem Verhältnis – einem Fall von Übertragung und Gegenübertragung – fachlich ausgedrückt – benachrichtigt worden). Spielrein wurde später selber Analytikerin. Noch viele Jahre nach Abbruch der gemeinsamen Arbeit bestand zwischen den beiden ein Briefwechsel. 1941 wird sie von den Nazis umgebracht.
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1909 war die einundzwanzigjährige Toni Wolff zu Jung in Behandlung gekommen. Sie wurde bald zu Jungs offizieller Mitarbeiterin und „femme inspiratrice”. Im September 1911 begleitet sie Emma und Carl Gustav Jung auf den Weimarer Kongress der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung”. Das Verhältnis wird publik und in psychoanalytischen Kreisen in Wien und Zürich herumgereicht. Da eine Auflösung der Jungschen Ehe nicht in Frage kommt, muss sich Emma mit Toni und umgekehrt damit abfinden und in die entstehende Dreierbeziehung schicken. Toni Wolff bleibt bis zu ihrem Tode vierzig Jahre lang Jungs engste Mitarbeiterin. Bereits unter ihrer Mitwirkung erscheint der erste Teil des Buches „Wandlungen und Symbole der Libido” (der zweite folgt im nächsten Jahr; revidierte Neuauflage von 1950 unter dem Titel „Symbole der Wandlung”), worin Jung die Trennung von der Freudschen Psychoanalyse vollzieht. Die persönliche Freundschaft zwischen Jung und Freud bricht ab.
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In Abgrenzung zur Richtung Freuds beginnt Jung seine Wissenschaft nun „Komplexe” oder „Analytische Psychologie” zu nennen. Er legt sein Amt als Präsident der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung” im April 1914 nieder: nach Alfred Adler die zweite Sezession innerhalb der psychoanalytischen Bewegung, die von Freud ausgegangen war. Wie nachhaltig diese drei Persönlichkeiten gewirkt haben, illustriert eine Anekdote, die E. A. Bennet überliefert hat. Sie spielte sich 1953 ab: Während seines Aufenthaltes in London musste Jung etwas in der Fachliteratur nachschlagen und begab sich deshalb in den Lesesaal des Britischen Museums. Er wurde gefragt, ob er einen Leserausweis besitze. „Nein”, antwortete er, „ich fürchte, ich habe keinen. Ich wusste nicht, dass man einen benötigt.” „Wer sind Sie?” hieß es dann. „Wie heißen Sie?” „Ich bin ein Schweizer Arzt und bin in London zu Besuch. Mein Name ist Jung, Doktor Jung.” „Doch nicht Freud, Jung und Adler?” rief der Angestellte aus. “O nein”, antwortete er. „Nur Jung!“
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Nach der Trennung von Freud folgt eine Zeit innerer Unsicherheit, ja Desorientiertheit. Jung lässt sich nun auf eine Auseinandersetzung mit dem Unbewussten ein. Die Flut von Bildern aus dem Unbewussten ist derart überwaÅNltigend, dass er sich veranlasst sieht, seine akademische Laufbahn aufzugeben. Vor dem Ersten Weltkrieg wird er wiederholt von Visionen befallen, in denen ein Meer von Blut Europa bedeckt. Als dann der Krieg ausbricht, sieht Jung seine wichtigste Aufgabe darin, sich auf sich selber zu besinnen, zu begreifen, inwiefern sein eigenes Erleben mit dem der Kollektivität zusammenhängt. „Ich lebte ständig in einer intensiven Spannung, und es kam mir oft vor, als ob riesige Blöcke auf mich herunterstürzten.” Innere Beruhigung tritt in dem Masse auf, wie es ihm gelingt, die Emotionen in Bilder zu fassen, und indem er das Ganze als ein wissenschaftliches Experiment betrachtet, gewinnt er etwas Distanz. Als „soror mystica” steht ihm Toni Wolff bei seiner „Nachtmeerfahrt” als eine unentbehrliche
Bezugsperson bei.
Er lässt sich von den Phantasiegestalten seiner Seelenbühne zur Erkenntnis führen, „dass es Dinge in der Seele gibt, die nicht ich mache, sondern die sich selber machen und ihr eigenes Leben führen”. Auf diese Art begegnet er jenem Seelenaspekt, den er „Anima” nennen wird: seinem weiblichen Teil des Unbewussten. Sie wird ihm zur Vermittlerin zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Er stösst hier auf einen Archetyp, dessen Entsprechung bei der Frau er „Animus” nennen wird. Der Bearbeitung des Materials, das es da aus den Tiefen des Unbewussten angespült hat, wird von dieser Zeit an sein ganzes Werk und Leben gewidmet sein.
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In Zürich ist unter den Emigranten „Dada” ausgebrochen. Im Cabaret „Voltaire” verkehren auch Psychoanalytiker aus dem Umkreis von Jung und Adler, und namentlich Tristan Tzara reagiert in seinen Werken auf Erkenntnisse C. G. Jungs. Der „Psychologische Club” wird in Zürich gegründet. Die transzendente Funktion und Die Struktur des Unbewussten erscheinen. Zwischen 1916 und 1918 sind Einsätze als Sanitätsarzt in einem englischen Internierungslagers in Chateau-d’OEx zu leisten. Täglich zeichnet Jung Mandalas – über ein Jahrzehnt lang wird er sich mit diesem archetypischen Bild auseinandersetzen, bevor er 1929 seine Entdeckung publiziert. Gegen Ende des Weltkriegs festigt sich in ihm die Einsicht, dass er die Idee von der Überordnung des Ich aufgeben muss. „Daran war ich ja gescheitert: ich wollte die wissenschaftliche Durcharbeitung der Mythen fortsetzen … Aber keine Rede davon! Ich wurde gezwungen, den Prozess des Unbewussten selber durchzumachen…, ohne zu wissen, wohin er mich führen würde.”
Er hält in Paris einen Vortrag über die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, ein Ergebnis seiner intensiven Auseinandersetzungen dieser Jahre.
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Er kehrt mit dem Wunsch, Afrika wiederzusehen, zurück. Um einem, so nimmt er an, naturnäheren Zustand der Psyche zu begegnen, bricht er nach Nordafrika auf. Er will „den Europäer einmal von außen sehen”. 1921 veröffentlicht er nach mehreren publikationsarmen Jahren, die mit ihren Turbulenzen seine Lebensmitte markieren, Psychologische Typen. „Das Typenbuch brachte die Erkenntnis, dass jedes Urteil eines Menschen durch seinen Typus beschränkt und jede Betrachtungsweise eine relative ist. Damit erhob sich die Frage nach der Einheit, die diese Vielheit kompensiert.” Der typologische Entwurf beinhaltet auch die Unterscheidung des „introvertierten” sowie des „extravertierten” Menschen – neben dem „Komplex” ein weiterer Ausdruck, der rasch Aufnahme in die Umgangssprache gefunden hat. In den zwanziger Jahren beschäftigt er sich intensiv mit den Texten der frühchristlichen
Gnostiker.
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Nach dem Tod der Mutter beginnt Jung auf dem 1922 am oberen Zürichsee erworbenen Grundstück zu bauen. Aus dem ursprünglichen Vorhaben eine Art Hütte mit dem Herd als Mitte – wird bald ein zweistöckiger Wohnturm. Es ergibt sich, dass in einem Rhythmus von jeweils vier Jahren immer wieder eine Erweiterung hinzukommt: 1927 der Mittelbau mit einem turmartigen Annex, der 1931 zu einem richtigen Turm ausgebaut wird und einen Raum enthält, den der Baumeister ausschließlich für sich bestimmt hat. 1935 erweitert er den Bau um einen Hof und eine Loggia am See. Schließlich drängt es ihn, 1955, nach dem Tod seiner Frau, seinem Ego durch Erhöhung des Mittelteils ein betonteres Zeichen zu setzen, und so findet der Bau seine endgültige Gestalt. Dies ist für ihn der Ort, wo er sich in seinem eigentlichsten Wesen aufgehoben fühlt. Das „Uralte”, das er immer schon als einen Teil seiner selbst empfand, ist in diesen Bauwerk, das weder Elektrizität noch fließendes Wasser kennt, zu Hause. Im Alter hält er sich fast die Hälfte des Jahres hier auf.
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Zu Beginn dieses Jahres ist er noch in Nordamerika bei den Pueblo-Indianern, wohin er im Vorherbst aufgebrochen war, und am Jahresende befindet er sich wieder in Afrika auf längerer Studien-Expedition bei den Elgonyis in Ostafrika; das Lagerleben am Mount Elgon bezeichnet er als eine der schönsten Zeiten seines Lebens. Er kehrt via Sudan und Ägypten im Frühjahr 1926 zurück. In der Zwischenzeit ist er nicht nur bei Patienten und Familie, sondern er hält ein Seminar, fährt für einige Wochen erneut nach England, um ein weiteres Seminar zu halten, und veröffentlicht die Schrift Die Ehe als psychologische Beziehung, die sich deutlich auf seine persönliche Erfahrung mit der polygamen Veranlagung des Mannes bezieht.
In diesem Jahr erscheint „Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten”. Als ihm der Sinologe Richard Wilhelm das Manuskript eines chinesischen taoistisch-alchemistischen Traktates mit der Bitte um einen Kommentar schickt, erweist sich der Text als eine ungeahnte Bestätigung von Jungs Gedanken über die Umkreisung der Mitte und somit über das Mandala. Es ist das erste Ereignis, das seine Einsamkeit – er beschäftigt sich jahrelang mit Dingen, von denen kein Mensch in seiner Umgebung eine Ahnung hat – durchbricht. Der Kommentar zu „Das Geheimnis der Goldenen Blüte” in der Übersetzung von Wilhelm erscheint 1929. Jung beginnt nun seine alchemistischen Studien. Der Zugang erschließt sich nur unter großen Mühen; es ist, als hätte er eine unbekannte Sprache zu erlernen. Dass es aber zwischen der Alchemie und der Analytischen Psychologie Übereinstimmungen gibt, ist für Jung evident. „Durch die Beschäftigung mit den alten Texten fand alles seinen Ort: die Bilderwelt der Imaginationen, das Erfahrungsmaterial, das ich in meiner Praxis gesammelt, und die Schlüsse, die ich daraus gezogen hatte… Die Urbilder und das Wesen des Archetypus rückten ins Zentrum meiner Forschungen, und ich erkannte, dass es ohne Geschichte keine Psychologie und erst recht keine Psychologie des Unbewussten gibt.“
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Es erscheinen „Seelenprobleme der Gegenwart” und im folgenden Jahr seine zwei umstrittenen Aufsatze zur Kunst: „Eine ausführlichere Kritik zu Ulysses von James Joyce” sowie ein Essay anlässlich der großen Picasso-Ausstellung im Zürcher Kunsthaus. Der Psychologe hat sich, wie er in einem Brief gesteht, fast drei Jahre lang mit dem Ulysses gequält und gelangweilt. Trouvaillen sind hingegen Stellen wie „die vierzig Non-stop-Seiten am Schluss des Buches”; sie „sind eine wahre Kette psychologischer Kostbarkeiten”. Jung lernte den irischen Autor übrigens erst viel später kennen, als Joyce ihn wegen seiner psychisch kranken Tochter Lucia konsultierte. Dass Jung zu Beginn der dreißiger Jahre zu einigem Renommée gelangt und „einer der angesehensten Bürger Zürichs” war, bezeugen die zahlreichen Ehrungen, die in dieser Zeit einsetzen: 1932 verleiht ihm die Stadt Zürich ihren Literaturpreis. 1935 ernennt ihn die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich, wo er die vor dem Ersten Weltkrieg unterbrochene akademische Lehrtätigkeit wieder aufgenommen hat, zum Titularprofessor (er gibt das Amt 1942 aus Gesundheitsgründen wieder auf). Im folgenden Jahr verleiht ihm die Universität in Harvard den Ehrendoktortitel, weitere folgen aus Kalkutta, Benares, Allahabad und Oxford. 1944 schließt sich die Universität Basel an, 1945 Genf, und erst dem Achtzigjährigen verleiht die ETH Zürich den Ehrendoktor der Naturwissenschaften.
In Deutschland gewinnen die Nationalsozialisten an Zulauf. Der Seelenanalytiker beobachtet und erlebt das Zeitgeschehen aus seinem spezifischen Sichtwinkel. Lange schon warnte er: „Je mehr die unbedingte Autorität der christlichen Weltanschauung sich verliert, desto vernehmlicher wird sich die „blonde Bestie” in ihrem unterirdischen Gefängnis umdrehen und uns mit einem Ausbruch mit verheerenden Folgen bedrohen.” Geschrieben 1918. Und 1932: „Uns bedrohen in schreckenerregendem Masse Kriege und Revolutionen, die nichts anderes sind als psychische Epidemien.” Die individualistische Tendenz der letzten Jahrhunderte rufe einen „kompensatorischen Rückschlag zum Kollektivmenschen” hervor.
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Bereits im Schatten von Hitlers Machtergreifung übernimmt er, nach drei Jahren Vizepräsidentschaft, das Amt des Präsidenten der internationalen „Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie” (das er bis 1940 innehat). Mit der Funktion verbunden ist die Herausgeberschaft der Verbandszeitschrift „Zentralblatt für die Psychotherapie”. Das Fortbestehen der Tiefenpsychologie ist zur Zeit der zunehmenden „Gleichschaltung” grundsätzlich in Frage gestellt. Als Jung unter diesen Umständen die Leitung der Gesellschaft übernimmt, nutzt er die ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten, diesen Tendenzen entgegenzuwirken. So veranlasst er die Bildung von Landesgruppen innerhalb der internationalen Organisation und bewirkt, dass vorerst nur die 1934 gegründete deutsche Gruppe rigorosen Maßnahmen unterliegt. Dieser „Allgemeinen deutschen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie” steht Matthias Göring, Vetter des Ministerpräsidenten und späteren Reichsmarschalls Hermann Göring, vor, welcher im Dezember 1933 im „Zentralblatt” eine GründungserklaÅNrung publiziert, die keine Zweifel an der eindeutig nationalsozialistischen Ausrichtung der Gesellschaft lässt. Jung hat, eigenen Angaben zufolge, vom Inhalt vor der Publikation nichts gewusst. Im Geleitwort schreibt er dennoch, die „Verschiedenheiten der germanischen und der jüdischen Psychologie sollen nicht mehr verwischt werden, was der Wissenschaft nur förderlich sein kann”. Mit solchen Äußerungen gerät er, jedenfalls in der Terminologie, immer wieder in bedenkliche Nähe des einschlägigen Wortge- und -missbrauchs, so wenn er andernorts schreibt: „Das arische Unbewusste hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit.“
Herbert Marcuse, Erich Kästner, Ernst Bloch, Erich Fromm und andere Zeitgenossen halten mit ihrer Kritik denn auch nicht zurück.
Später wird Jung zu seiner Verteidigung vorbringen, es sei sein Anliegen gewesen, die Psychotherapie als solche, unter den gegebenen Bedingungen, zu retten. Leo Baeck gegenüber, berichtet Gerschom Scholem, soll Jung kurz nach dem Krieg bekannt haben: „Jawohl, ich bin ausgerutscht.“
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beginnen auch die alljährlichen sommerlichen Eranos-Tagungen in Ascona, die Olga Fröbe- Kapteyn ins Leben gerufen hat. An diesen internationalen Konferenzen anfangs mit dem Schwerpunkt im geisteswissenschaftlichen Bereich, später kommen vermehrt Naturwissenschaftler zu Wort – kommt es zu einem allseitig höchst fruchtbaren interdisziplinären Austausch. Jung bestimmt maßgebend die geistige Linie der Tagungen. Im ersten Jahr lautet das Thema „Yoga und Meditation im Osten und im Westen”. Unter den namhaften Teilnehmern finden sich in den folgenden Jahren auch Adolf Portmann, Martin Buber, Heinrich Zimmer, Karl Kerényi, Erich Neumann, Hugo Rahner und viele andere mehr. Die Eranos-Tagungen in der neutralen Schweiz bilden in zunehmend sich verdüsternder Zeit eine unersetzliche Gelegenheit für derartige Begegnungen. Für Jung entwickeln sie sich zu einer Plattform für anregende Auseinandersetzung in Hinsicht auf seine in Entstehung begriffenen Arbeiten. Die Beiträge liegen in Jahrbüchern gesammelt vor.
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Am Kongress der “Internationalen Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie” in Bad Nauheim setzte Jung es durch, dass die jüdischen deutschen Ärzte, denen die Mitgliedschaft in der deutschen Landesgruppe entzogen worden war oder denen sie verwehrt wurde, die Einzelmitgliedschaft der „Internationalen Gesellschaft” erwerben konnten, wodurch sie einen beruflichen und sozialen Status erhielten (Jaffé). Wenn Jung im gleichen Jahr aber schreibt: „Sollten wir wirklich meinen, dass ein Volksstamm, der seit einigen tausend Jahren als das „auserwählte Volk” durch die Geschichte wandert, nicht durch besondere seelische Eigenart zu einem solchen Gedanken ermächtigt wäre”, so entsteht der Eindruck, dass ihn selber hier womöglich Unbewusstes umtreibt. Im August ist sein zweiter Eranos-Vortrag den Archetypen des kollektiven Unbewussten gewidmet. „Wirklichkeit der Seele” erscheint im Druck.
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Das Zeitgeschehen der dreißiger Jahre kommt in Erinnerungen, Träume, Gedanken (postum erschienen) so gut wie nicht vor. „Nach äußeren Dingen habe ich Jung oft vergeblich gefragt; nur die geistige Essenz des Gelebten war ihm unvergesslich und der Mühe des Erzählens wert”, kommentiert Aniela Jaffé. Aber die Reibfläche von inneren und äußeren Dingen wirft Unebenheiten auf. Jung ist inzwischen sechzig, hält die prestigeträchtigen Tavistock Lectures in London über Grundlagen der Analytischen Psychologie, gewährt anlässlich der Eranos- Tagung in seinem Vortrag über Traumsymbole des Individuationsprozesses erstmals Einblick in seine eingehenden alchemistischen Forschungen. 1936 veröffentlicht er die Schrift Wotan. Der Nationalsozialismus als Ausbruch eines Archetyps lautet die Diagnose. Der heidnische Gott erkläre mehr als rationale Deutungen, er sei es, der „Sturm- und Brausegott, ein Entfessler der Leidenschaften und der Kampfbegier, und zudem ein übermaÅNchtiger Zauberer und Illusionskünstler”, der die Masse zu „Dingen” anstacheln könnte, „von denen wir uns jetzt allerdings noch schlecht eine Vorstellung machen können …” Beim Thema bleibt er 1937 in London, wo er eine Vorlesung über Psychologie und nationale Probleme hält, und in New Haven/Connecticut, wo die Terry Lectures an der Yale University mit Psychologie und Religion überschrieben sind. Ende des Jahres reist er auf Einladung der britisch-indischen Regierung nach Indien. Freud emigriert 1938 nach London. Es findet der letzte Kongress der „Internationalen Gesellschaft” unter Jungs Präsidentschaft statt.
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Der Krieg, die „deutsche Psychose”, bricht aus. Jung „hält sich zur Mithilfe in diversen Hilfsorganisationen bereit. Er, der Nichtpolitiker, lässt sich sogar überreden, bei den schweizerischen Nationalratswahlen zu kandidieren, erhält dann aber doch nicht genügend Stimmen” (Wehr). Als Freud am 23. September im Londoner Exil stirbt, veröffentlicht Jung einen Nachruf, in dem er weder von Würdigung noch von Kritik absieht. Jung verweist den „großen Zerstörer” dessen, was im 19. Jahrhundert zu Glanz gelangt, doch bei weitem kein Gold war, in Schranken: „Freud war ein „Nervenarzt” (in des Wortes striktester Bedeutung) und ist es in jeglicher Hinsicht auch geblieben. Er war kein Psychiater, kein Psychologe und kein Philosoph. „Auf dem Gebiet der Philosophie fehlten ihm die elementarsten Bildungselemente.” Unausgesprochen deutet er an, dass Freud in Analogie zu Moses den Weg ins Gelobte Land des Unbewussten zwar gewiesen, es jedoch selber nicht eigentlich betreten habe.
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Mathias Göring bewirkt die „Gleichschaltung” der „Internationalen Gesellschaft”, deren Vorsitz Jung kurz zuvor aufgegeben hatte, und verlegt ihren Sitz von Zürich nach Berlin. Jungs Schriften werden in Deutschland verboten. In dieser Zeit äußert sich Jung in Psychologie und Religion erstmals ausführlich zur besonders heiklen Frage einer Konfrontation von Psychologie und religiöser Weltanschauung. In Pararelsica. Zwei Vorlesungen über den Arzt und Philosophen Theophrastus (1942), einer Veröffentlichung des Vortrags von 1941, wird diese Frage weiter erörtert. Rund um die Schweiz wütet der Krieg. Neben seiner Vortrags- und Reisetätigkeit, neben seiner Arbeit als Analytiker, Forscher und Autor pflegt Jung auch in dieser turbulenten Zeit die Muße. In Bollingen sind drei Bäume zu fällen. Er nimmt sich alle Zeit dafür, sie in Stücke zu sägen und zu hacken. Auf die Frage nach dem „einfachen Leben” meint er 1941 unter anderem: „Alle zeitsparenden Mittel, zu denen Verkehrserleichterungen und andere Bequemlichkeiten gehören, sparen paradoxerweise keine Zeit, sondern dienen bloß dazu, die vorhandene Zeit so vollzustopfen, dass man überhaupt keine Zeit mehr hat. Daraus entsteht zwangsläufig atemlose Hast, Oberflächlichkeit und nervöse Ermüdung mit allen dazugehörigen Symptomen wie Reizhunger, Ungeduld, Reizbarkeit, Verflatterung usw.“
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Jung folgt der Berufung an die Universität Basel als Ordentlicher Professor im Rahmen eines für ihn gegründeten Ordinariates für Medizinische Psychologie. Nach der ersten Vorlesung muss der Neunundsechzigjährige jedoch aus gesundheitlichen Gründen auf die Vorlesungen verzichten und später den Lehrauftrag zurückgeben. Im Zustand der Bewusstlosigkeit erlebt der alte Mann Delirien und Visionen – so sieht er die Erde aus einer Höhe von 1500 Kilometern –, von denen er in Erinnerungen, Träume, Gedanken auf mehreren Seiten erzählt. Sein Geist sträubt sich, erneut ins irdische „Kistchen- System” hinabzusteigen. Der Kampf dauert drei Wochen. Als schließlich das Leben siegt, stirbt sein Arzt, der ihm in seinen Visionen entgegengekommen war. „Stellt man Jungs Erfahrungen gegeneinander, die er zum einen als „Nachtmeerfahrt” der Seele, zum andern unter dem Bild des Aufstiegs hoch über den Planeten Erde gedeutet hat, so könnte man sagen: Im Zuge seiner schicksalhaften Auseinandersetzung mit dem Unbewussten hat er der Dimension der psychischen Tiefe die der spirituellen Höhe hinzugefügt. Wer sich ihr zuwendet, der ist im Begriff, den Voraussetzungsspielraum des Psychologischen zum Transpersonalen, ja zum Pneumatischen hin zu überschreiten. Nicht zufällig tritt das Religiöse während der Zeit seiner zweiten Lebenshälfte immer stärker hervor” (Wehr). Jung, 1945: „Das Hauptinteresse meiner Arbeit liegt nicht in der Behandlung von Neurosen, sondern in der Annäherung an das Numinose. Es ist jedoch so, dass der Zugang zum Numinosen die eigentliche Therapie ist, und insoweit man zu den numinosen Erfahrungen gelangt, wird man vom Fluch der Krankheit erlöst.” Nach unmittelbarer Todesnähe sind dem Liebhaber der Seele, wie er sich in einem seiner Werke selber nennt, weitere siebzehn Jahre vergönnt, in denen viele von Jungs Hauptwerken entstehen. Eines davon ist „Psychologie und Alchemie”, das die Alchemie als religiöse Philosophie betrachtet.
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Antisemitischer und nazifreundlicher Tendenzen bezichtigt, veröffentlicht Jung als Stellungnahme die Aufsätze zur Zeitgeschichte. Kontrovers wie damals ist dieser Bezug zur „Zeitgeschichte” der vorangegangenen Jahre bis heute geblieben. Zahlreiche seiner nächsten Mitarbeiter bezeugen immer wieder, wie er sich für seine jüdischen Kollegen eingesetzt hat. Stellvertretend komme hier E. A. Bennet zu Wort: „Dass man ihm nazifreundliche Neigungen zuschreiben wollte, erschien Jung um so lächerlicher, als er von gut unterrichteter Seite wusste, dass sich sein Name auf der schwarzen Liste der Nazis befunden hatte …” Weiter schreibt er, „dass Jung alles versuchte, was in seiner Macht stand, um jüdischen Psychiatern und Psychologen, die als Verfolgte aus Deutschland fliehen mussten, zu helfen und sie zu unterstützen. Viele dieser Flüchtlinge kamen nach London, und wie auch andere nichtjüdische Ärzte erhielt ich Briefe von Jung (die ich noch heute besitze), in denen er mir ehemalige jüdische Schüler empfiehlt und mich ersucht, ihnen Freundschaft und berufliche Unterstützung zu gewähren.” „Als junger Forscher war Jung fasziniert von den schöpferischen Inhalten des kollektiven Unbewussten; und diese positive Wertung, diese Faszination, lag auch noch in seiner Hoffnung auf eine fruchtbare Entwicklung des Nationalsozialismus, jenes Ausbruchs unbewusster Kräfte, zugrunde. Im Lauf der Jahre wurde ihm jedoch die ausschlaggebende Rolle des Bewusstseins als erkennende, Verantwortung tragende und sinngebende Instanz immer deutlicher”, führt Aniela Jaffé an. Eine solche Hoffnung auf einen Jungbrunnen in der unbewussten kollektiven Tiefe stellte womöglich zumindest in der sehr konkreten Zeitgeschichte jener Jahre eine Falle dar. Als im September 1946 Winston Churchill der Stadt Zürich einen offiziellen Besuch abstattet, erhält Jung die Ehre, beim Bankett neben Churchill zu sitzen. Zur Persona non grata ist er gewiss nicht geworden. Als nächste Publikationen erscheinen „Psychologie und Erziehung” und „Die Psychologie der Übertragung”.
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Der Ausschlag zur Gründung des C. G. Jung-lnstituts kommt aus dem Psychologischen Club, namentlich von Jolande Jacobi. Jung selber ist der Ansicht, er vertrete ja keine Doktrin, propagiere keine Lehre, und er wolle auch keine „blinden Anhänger”. Doch schließlich liegt es ihm fern, das Unternehmen zu behindern, und das Institut wird am 24. April gegründet. „Symbolik des Geistes” wird publiziert.
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Am 1. April, einem Freitag, gibt es bei Jungs mittags Fisch. Jemand erinnert an den Brauch des „Aprilfisches”. Am Vormittag hatte sich Jung ausgerechnet folgende Inschrift notiert: „Der ganzheitliche Mensch ist von unten bis zur Mitte ein Fisch.” Nachmittags zeigt ihm eine Patientin eindrucksvolle Fischbilder. Abends bekommt er zu allem Überfluss gestickte Meerungeheuer zu sehen. Am 2. April erzählt ihm eine Patientin einen Traum, in welchem sie einen großen Fisch erblickt hat. – Jung arbeitet zu dieser Zeit gerade an einer Untersuchung über das Fischsymbol, von der die Beteiligten aber mit einer Ausnahme nichts wissen. Als er sich alle diese Koinzidenzen notiert hat, geht er einige Schritte spazieren: Vor ihm auf der Seemauer liegt ein toter, anscheinend unverletzter Fisch … Die siebenfache Häufung des Motivs sträubt sich dagegen, unbeachtet zu bleiben. Jungs Verdacht, dass es sich um sinngemäße, zwar akausal, aber doch zusammenhängende Koinzidenzen handelt, wagt er zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht zu veröffentlichen. Dies geschieht erst zwei Jahre später im engen Kreis der Eranos-Tagungen, und ein weiteres Jahr darauf publiziert er, untermauert mit ausführlichen statistischen Experimenten, seine Vermutungen über das Phänomen, das er Synchronizität nennt und das ihn seit der Mitte der zwanziger Jahre bereits beschäftigt. Im Gegensatz zum Synchronismus, der bloßen Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse, meint der Begriff Synchronizität das Zusammentreffen zweier oder mehrerer nicht kausal aufeinander bezogener Ereignisse, welche von gleichem oder ähnlichem Sinngehalt sind. Bei seinen Untersuchungen hilft ihm nicht nur die Kenntnis der chinesischen intuitiven Ganzheitserfassung, wie sie im I Ging zur Anwendung kommt, sondern auch die stark in Vergessenheit geratene westliche Punktierkunst (Ars geomantica). Als eine praktizierte intuitive Technik, ganzheitliche Charakterbilder zu ermöglichen, nimmt er auch die Astrologie unter die Lupe.
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Im Jahr, in dem Papst Pius XII. das Dogma von der Himmelfahrt Mariä verkündet, also das Weibliche innerhalb der christlichen Doktrin aufwertet – auf eine solche Notwendigkeit hat nicht zuletzt Jung nachdrücklich hingewiesen –, erscheint Jungs Schrift „Gestaltungen des Unbewussten”.
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wird Aion veröffentlicht, und Jung hält seinen letzten Eranos-Vortrag, Über Synchronizität. 1952 folgt sein bekenntnishaftes Buch Antwort auf Hiob, das heftige Reaktionen und Anfeindungen hervorruft, die es sogar auf die amerikanischen Bestsellerlisten treiben. Mit Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge (1952), in Zusammenwirkung mit Wolfgang Pauli, löst Jung, wie er in der Vorrede schreibt, „sozusagen ein Versprechen ein, an dessen Erfüllung ich mich viele Jahre lang nicht gewagt habe … Wenn ich nun dennoch meine Scheu überwunden habe, so geschah es hauptsächlich deshalb, weil sich … meine Erfahrungen mit dem Synchronizitätsphänomen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt häuften.” Mit der ihm eigenen Mischung von Vorsicht, Ankündigung einer Brüskierung und Berufung auf seine breite sowie tiefe Erfahrung als Arzt leitet Jung hier den Versuch ein, „die Basis der Naturerkenntnis zu verbreitern.”
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„Mein Name erfreut sich einer von mir selbst quasi unabhängigen Existenz. Mein wahres Ich hackt Holz in Bollingen und kocht die Mahlzeiten und versucht, die Plagen eines achtzigsten Geburtstags zu vergessen.” Ob der Pflege der inneren Entwicklung vergisst er die Umwelt hingegen bis in sein hohes Alter nicht. Als 1956 sowjetische Truppen den ungarischen Aufstand niederschlagen, verfasst er Stellungnahmen, in welchen er dieses Verbrechen verurteilt. Wiederholt äußert er sich zum Phänomen der Ufos. „1955 war seine hohe Gestalt leicht gebückt und wirkte fast fragil. Die körperliche Zartheit wurde jedoch meist übersehen, denn sie verblasste hinter einer von ihm ausstrahlenden Mächtigkeit; ihrem Eindruck konnte sich niemand entziehen, der ihm begegnete” (Jaffé). Sein Geburtstag wird feierlich begangen, zunächst im privaten Kreis in Küsnacht – die Familie umfasst mit den ersten Urenkeln immerhin rund vierzig Personen –, und dann in offiziellem Rahmen.
Kurz darauf stirbt Emma Jung am 27. November. Ihr grosses Werk Die Gralslegende in psychologischer Sicht ist noch nicht ganz zu Ende geführt. Dies übernimmt Marie-Louise von Franz; das Buch erscheint 1960. Ruth Bailey besorgt von nun an den Haushalt. Hin und wieder genießt der einstmals leidenschaftlich Reisende Autofahrten in die nähere Umgebung oder in die Nachbarländer, meist in Begleitung von Ruth Bailey, die schon in Ostafrika mit dabei war, und Fowler McCormick, der Jung zu den Pueblos begleitet hatte. Jung führt bis an sein Lebensende eine umfangreiche Korrespondenz. Bereits 1953 begannen im Rahmen der Bollingen Series, New York, Jungs Collected Works zu erscheinen. Neue Arbeiten: „Von den Wurzeln des Bewusstseins” (1954) und „Mysterium Coniunctionis”, Band I (1955) und II (1956), der Schlussstein zum Thema der Gegenüberstellung von Alchemie und Psychologie des Unbewussten, für viele Jungs Hauptwerk.
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Die im vorangegangenen Sommer auf Anregung des Verlegers Kurt Wolff gefasste Idee, eine Biografie Jungs herauszugeben, nimmt ab Frühjahr 1957 Gestalt an. Zunächst wird Aniela Jaffé, die in den dreissiger Jahren ihre Analyse bei Jung gemacht hatte und ab 1947 Sekretärin des C. G. Jung-Instituts, – später von Jung persönlich – war, zur „Biografin” bestimmt. Indem sie Fragen stellt, auf die Jung dann antwortet, wird er veranlasst, sein Leben zu erzählen. Denn „etwas wie eine Autobiografie von mir zu geben”, schreibt Jung in einem Brief dieses Jahres, „konnte ich mir schon gar nicht vorstellen. Ich kenne zu viele Autobiografien und deren Selbsttäuschungen und Zwecklügen und weiss zuviel von der Unmöglichkeit einer Selbstbeschreibung, als dass ich es wagen könnte, selbst Versuche in dieser Hinsicht anzustellen.” Er war mit Angaben zu seinem Privatleben immer sehr zurückhaltend gewesen. Ende des Jahres kommt es dennoch dazu, dass er selber über seine Kindheit zu schreiben beginnt. Und dies, obschon ihn das Schreiben sehr anstrengt. „Ein Buch von mir ist immer ein Schicksal. Es liegt etwas Unabsehbares darin, und ich kann mir nichts vorschreiben oder vornehmen. So nimmt auch die Autobiografie schon jetzt einen anderen Weg, als ich mir zu Beginn vorgestellt hatte. Dass ich meine frühen Erinnerungen niederschreibe, ist eine Notwendigkeit. Unterlasse ich es auch nur einen Tag, so stellen sich sogleich unangenehme körperliche Symptome ein.” Weitere Kapitel drängen sich ihm auf. Richard Evans kann ihn daneben für vier je einstündige Filminterviews gewinnen. Jung findet auch noch Kraft für weitere Gespräche, darunter eines für den Schweizer Rundfunk. Im folgenden Jahr beginnen seine Gesammelten Werke zu erscheinen, außerdem kommt Ein moderner Mythus heraus. Anlässlich seines 85. Geburtstags wird er zum Ehrenbürger von Küsnacht ernannt.
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Schon unmittelbar nach seinem 85. Geburtstag war Jung ernstlich erkrankt, hatte sich aber nochmals erholt. Er nimmt seine spärlichen Kräfte für eine letzte Publikation zusammen: Das – mit Absicht – eher populär gehaltene Buch ”Man and his Symbol” (Der Mensch und seine Symbole, 1968), eine Einführung in die Analytische Psychologie, für die er das Kapitel Zugang zum Unbewussten beisteuert, in dem er resümiert: „In einer Periode der menschlichen Geschichte, da alle verfügbare Energie auf die Erforschung der Natur verwandt wird, untersucht man zwar die bewussten Funktionen des Menschen, aber der wirklich komplizierte Teil des Geistes, der die Symbole hervorbringt, ist immer noch weitgehend unerforscht. Es scheint fast unglaublich, dass, obwohl wir jede Nacht von dort Signale empfangen, eine Entzifferung dieser Mitteilungen den meisten Menschen zu lästig erscheint. Das bedeutendste Instrument des Menschen, seine Psyche, wird kaum beachtet, oft sogar mit Misstrauen und Verachtung angesehen. „Das ist bloß psychologisch” heißt es sehr häufig: „Es bedeutet gar nichts.”
Nach Wochen der Krankheit stirbt C. G. Jung am 6. Juni in seinem Haus in Küsnacht. Bald nach seinem Tod kommt ein Gewitter auf, und der Blitz schlägt in eine hohe Pappel, die in Jungs Garten am See steht, tief ein. – Die Beerdigung auf dem Friedhof von Küsnacht findet am 9. Juni 1961 statt.