Der Flow

Der Flow

Was immer uns geschieht, geschieht zum grössten Teil ohne unser Wissen, ist gewissermassen unser Schicksal. Wir wissen zu wenig, weil wir das Wahre nicht sehen wollen oder können. Das ist die Weise, die uns von unseren unverwirklichten Möglichkeiten abhält. Nichts geschieht zufällig, aber niemand weiss, welchem Sinn und Zweck das Ganze folgt. Ein Weg ist nicht sichtbar, aber man schreitet voran. Der Weg entsteht beim Gehen, ohne Absicht. Kein Ziel ist sichtbar. Wem vertraut man sich an, wenn keiner führt?


Im Zusammenhang mit der fatalen menschlichen Neigung, das Böse überall, nur nicht im eigenen Bereich zu sehen, sagte Jung im dritten Programm der BBC (Sonntag, 3. November 1947)

„Wenn beispielsweise die Welschschweizer annehmen sollten, daß die Deutschschweizer samt und sonders Teufel seien, könnten wir in der Schweiz innerhalb kürzester Zeit den größten Bürgerkrieg haben, und wir würden auch die überzeugendsten wirtschaftlichen Gründe finden, weshalb ein solcher Krieg nicht zu vermeiden war. Nun – wir tun das nicht, denn wir haben unsere Lektion vor mehr als vierhundert Jahren gelernt. Wir kamen zum Schluß, daß es besser ist, auswärtige Kriege zu vermeiden, und so zogen wir nach Hause und nahmen den Hader mit uns. In der Schweiz haben wir die «vollkommene Demokratie» aufgebaut, wo unsere kriegerischen Instinkte sich in der Form häuslicher Zwistigkeiten, genannt «politisches Leben», verausgaben können. Wir streiten miteinander innerhalb der Grenzen von Gesetz und Verfassung und neigen zu der Annahme, Demokratie sei ein chronischer Zustand gemilderten Bürgerkrieges. Wir sind weit davon entfernt, untereinander Frieden zu haben: im Gegenteil, wir hassen und bekämpfen einander, weil es uns gelungen ist, den Krieg nach innen zu wenden. Unser friedliches Gebaren nach außen dient uns nur dazu, unsere heimischen Streitereien vor fremden Eindringlingen, die uns stören könnten, fernzuhalten. Das ist uns im großen ganzen gelungen, aber wir sind noch weit vom Endziel entfernt. Wir haben noch immer Feinde in Fleisch und Blut und haben es noch nicht dahin gebracht, unsere politischen Unstimmigkeiten zu introvertieren.

Wir leiden immer noch an dem krankhaften Wahn, daß wir friedlich miteinander auskommen sollten. Aber selbst unser nationaler, abgeschwächter Kriegszustand würde bald ein Ende finden, wenn jeder seinen eigenen Schatten sehen und das einzige Ringen auf sich nehmen könnte, das wirklich aller Mühe wert ist: den Kampf gegen den überwältigenden Machtdrang des Schattens. Wir haben eine erträgliche Sozialordnung in der Schweiz, weil wir untereinander streiten. Unsere Ordnung wäre vollkommen, wenn nur jedermann seine Aggressivität nach innen kehren würde, in seine eigene Psyche. Leider hält unsere religiöse Erziehung uns davon ab, mit ihren falschen Verheißungen eines unmittelbaren Friedens im Innern. Friede mag zu guter Letzt kommen, aber erst wenn Sieg und Niederlage ihre Bedeutung verloren haben. Was meinte unser Herr, als er sagte: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert»? [Mt. 10,34]”

aus: Barbara Hannah, C.G. Jung, sein Leben und Werk, S. 16

Artis Auriferae S. 475: Etia in habentibus symbolum facilis est transitus… Wenn wir das Symbol haben, ist der Übergang leicht (Conrad Waldkirch 1593) Ein Bild aus der Bibliothek von C.G. Jung.