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Präludium
Im Jahr 1935 sagte Jung: „Um das 35. Lebensjahr kommt man an einen Punkt, an dem vieles sich ändert, zum ersten Mal tut sich die Schattenseite des Lebens auf, das Zueilen auf den Tod. Dante ist sicherlich an diesen Punkt gestoßen, und wer den Zarathustra gelesen hat, wird wissen, dass er auch Nietzsche nicht fremd war. Wenn dieser Wendepunkt erreicht wird, reagieren die Menschen unterschiedlich darauf: Einige kehren sich von ihm ab, andere stürzen sich da hinein und wieder anderen widerfahren wichtige Dinge, die von außen kommen. Wenn wir etwas nicht sehen, zwingt das Schicksal es uns auf.”1 Bis 1913 hatte er sich als eine der führenden Persönlichkeiten der europäischen Psychiatrie etabliert und war Präsident der aufstrebenden Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Im Liber Novus berichtet er: „Ich habe Ruhm, Macht, Reichtum, Wissen und jedes menschliche Glück erreicht. Da hörte mein Begehren nach Vermehrung dieser Güter auf, das Begehren trat in mir zurück, und das Grauen kam über mich.”2 Er war an einem Wendepunkt angelangt, der sein Leben und sein Werk verändern sollte: Dadurch wurde Jung zu Jung, und die analytische Psychologie entstand als allgemeine Psychologie und als Schule der Psychotherapie.
Dieser Wandel vollzog sich durch die Erforschung der visionären Vorstellungskraft, die in den Schwarzen Büchern von 1913 bis 1932 festgehalten wurde. Es handelt sich dabei nicht um persönliche Tagebücher, sondern um die Aufzeichnungen eines einzigartigen Selbstversuchs, den Jung seine „Konfrontation mit der Seele” und seine „Konfrontation mit dem Unbewussten” nannte. Darin hielt er nicht das alltägliche Geschehen oder äußere Ereignisse fest, sondern seine rege Phantasie, die Schilderung seiner seelischen Zustände und die Reflexion darüber.
Aus den darin enthaltenen Phantasien verfasste er zwischen 1913 und 1916 den Entwurf des Liber Novus, des Roten Buches, das er dann in einem kalligraphischen Band niederschrieb und mit Bildern illustrierte. Die Bildwerke ab 1916 im Roten Buch beziehen sich auf Jungs weitere Erkundungen in den späteren Schwarzen Büchern. Liber Novus und die Schwarzen Bücher sind also eng miteinander verwoben. Die Schwarzen Bücher umfassen die Zeit vor, während und nach Liber Novus.
Liber Novus ist aus den Schwarzen Büchern hervorgegangen. Es enthält Jungs Meditation über seine Phantasien zwischen 1913 und 1916 und sein Verständnis für die Bedeutung seiner bisherigen Erfahrungen. Nach Jungs Auffassung betraf sein Vorhaben nicht nur ihn selbst, sondern auch andere; er war zu der Überzeugung gelangt, dass seine Phantasien einer allgemeinen mythopoetischen Schicht der Psyche entstammten, die er das kollektive Unbewusste nannte.3 Aus den Aufzeichnungen eines Selbstversuchs entstand ein psychologisches Werk in literarischer und theogonischer Form. Jungs fortgesetzte Erkundungen der visionären Vorstellungskraft in den Schwarzen Büchern von 1916 zeichnen sein sich entwickelndes Verständnis nach und zeigen, wie er versuchte, die gewonnenen Einsichten zu entwickeln, zu erweitern und im Leben umzusetzen. Gleichzeitig ermöglichen sie es, seine Bildwerke ab 1916 im Kontext der Entwicklung der Ikonographie seiner persönlichen Kosmologie zu verstehen.
In Anbetracht der Überschneidungen zwischen den Schwarzen Büchern und dem Liber Novus, insbesondere zwischen 1913 und 1916, werden in dieser Einführung notwendigerweise Abschnitte aus der Einführung zum Liber Novus in überarbeiteter und erweiterter Form wiedergegeben, die nun aus einem anderen Blickwinkel aufgegriffen werden, da beide Werke aus einem Kontext und einer gemeinsamen Chronologie hervorgehen. Die vorliegende Einleitung konzentriert sich mehr auf die Entfaltung von Jungs visionärem Selbstexperiment und bietet eine umfassendere Kontextualisierung der späteren Periode, 1916 bis 1932. Ebenso wurde ein Teil der Anmerkungen aus der Norton-Ausgabe des Liber Novus von 2009 in den ersten Teil der vorliegenden Ausgabe übernommen. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert war es nicht ungewöhnlich, dass ein Werk durch mehrere Ausgaben erweitert und neu gestaltet wurde. Eine Reihe von Jungs zentralen Veröffentlichungen, wie Die Psychologie der unbewussten Prozesse, sind Paradebeispiele dafür. Die vorliegende Einführung ist Teil dieser Gattung.
1 Vortrag an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) am 14. Juni 1935, in Barbara Hannah, ed. Modern Psychology, Vols. 1 and 2: Notes on Lectures Given at the Eidgenössische Technische Hochschule, Zürich, by Prof. Dr. C. G. Jung, October 1933 – July 1935, 2. Auflage. (Zürich, Privatdruck: 1959), p. 223.
2 LN, [Dt. Der Text, S. 137, FN 32].
3 MP, S. 252; Erinnerungen, Kapitel 6. Jung verwendete den letztgenannten Ausdruck zum ersten Mal öffentlich im Jahr 1916 in „Die transzendente Funktion” (GW 8, § 183)